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Poesie-Therapie: Wenn Worte wunder wirken

Es gibt Kunsttherapie, Tanztherapie, Musiktherapie, Dramatherapie, Therapie mit Pferden, Hunden, Delfinen ...  Und es gibt Poesie-Therapie.

What? Ist das sowas wie Selbstheilung durch das Rezitieren von Gedichten?

Nein. Nicht ganz.

 

Der Begriff ist ein bisschen verwirrend, denn bei dieser Therapieform geht es nicht um Gedichte. Das Wort "Poesie" umfasste in seinem ursprünglichen Bedeutung (ja, ja, die alten Griechinnen wieder) alle erdenklichen Arten von Texten.

 

Es geht bei der Poesie-Therapie darum, schreibende Bereiche des Unterbewusstseins zu erreichen, die sich uns sonst nicht so einfach eröffnen. Und schon gar nicht, wenn sich da so einiges verbirgt, das uns nicht so richtig gefällt oder uns Probleme bereitet.

 

Stift und Papier als Zauberschlüssel zu verborgenem Seelen-Zwick-Zwack, deren tiefsitzenden Ursachen und dem kreativen Umgang damit. 

Was ist das jetzt genau, Poesie-Therapie?

Poesie-Therapie, auch bekannt als Schreibtherapie, ist eine kreative Methode, bei der das Schreiben und Lesen von Texten genutzt wird, um Heilungsprozesse zu unterstützen und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. 

 

Die meisten Schreibenden haben irgendwann schon mal zu Notizbuch und Schreibwerkzeug gegriffen, um sich Klarheit über Gedanken zu verschaffen, um einem Kummer oder Schmerz Ausdruck zu verleihen, um merkwürdige Gefühle zu konkretisieren.

 

Genau genommen ist Poesie-Therapie genau das. Nur dass sich die Poesie-Therapie eben spezifischen Methoden bedient, die sich als hilfreich erwiesen haben.

 

Und sie kann auch ganz gezielt in bestimmten Fällen eingesetzt werden. Beispielsweise kann diese Therapieform große Dienste erweisen bei der Bewältigung von Traumata, bei Essstörungen aller Art, bei Suchterkrankungen, Depression. Doch auch die Begleitung von Krebs- und Schmerztherapien, bei Herz-Kreislauf-oder Atemwegs-Behandlungen mit Poesie-Therapie kann gute Ergebnisse erzielen.

 

Silke Heimes ist in Deutschland eine der führenden Expertinnen zum Thema (einige ihrer Bücher stehen hier in meinem Regal). Wer mehr wissen will, schaut unbedingt mal bei ihr vorbei. 

 

Wie funktioniert das Ganze?

Keine Angst: Du musst keine Reimspezialistin sein, um endlich ein Trauma zu überwinden. Und du musst auch nicht deine ganze Biografie niederschreiben, bis du endlich dahinter kommst, was damals falsch gelaufen ist.

 

Es geht bei der Poesie-Therapie darum, deine Gedanken und Gefühle aufs Papier zu bringen, Assoziationen zu nutzen, Gedankenbildern schreibend nachzugehen, vergangene Situationen in ein anderes Licht zu tauchen, es geht darum eine kreative Brücke zu schaffen von Innen und Außen. Auf diese Weise machst du etwas von dir, was sich sonst in deinem Inneren verschanzt, sichtbar und fühlbar und (das ist ein echtes Wunder!): VERÄNDERBAR. Vor allem für dich selbst. Und darum geht es: Dass es dir besser geht. 

 

Ob du nun mit einem Gedicht über deine Angst vor dem nächsten Morgen schreibst oder einen Brief an dein zukünftiges Ich verfasst, ob du zu Musik schreibst, Wortnetze knüpfst oder dir eine unbekannte Sprache ausdenkst – alles ist erlaubt (je nach Aufgabenstellung natürlich). Der Schreibprozess unterstützt den Dialog zwischen Körper, Geist und Seele. Es findet eine Kommunikation zwischen deinen verschiedenen Anteilen statt. 

 

In der Poesie-Therapie gibt es bestimmte Methoden, die sich je nach Bedarf einsetzen lassen. Allen gemeinsam ist dabei, dass sie eine Vorbereitung, einen freien schöpferischen Teil und eine Nachbereitungsphase haben. So wie ich Poesie-Therapie gelernt haben (hört, hört!)  ist auch eine vierte Phase hilfreich, um nachhaltige Effekte zu erzielen. 

 

Schauen wir uns diese vier Phasen an - mit denen ich auch  in meinen Kursen arbeite, die nicht therapeutisch sind (bin halt Fan!): 

 

Bei der Vorbereitung geht es darum, sich auf das Thema oder die Aufgabe einzustimmen, ähnlich wie ein Warm Up beim Sport. Wenn es beispielsweise darum geht, eine Landschaft schreibend zu durchwandern, sammelt man erstmal verschiedene Landschaftsformen, mündlich, schriftlich oder vor seinem inneren Auge, erinnert sich an die schönste, wildeste oder beeindruckendste Landschaft, die man jemals gesehen hat, assoziiert Landschaften zu spezifischen Gefühlen oder Erinnerungen. Jetzt kann es weitergehen. 

 

Dann kommt der Hauptteil der "Sitzung": Die Schreibzeit. Hierfür gibt es eine klare Aufgabenstellung, die von der Poesie-Therapeutin vorgegeben wird. Diese Aufgabenstellung gibt einen deutlichen Einstieg vor, eine Richtung und lässt gleichzeitig viel Freiheit, dass sich entwickeln kann, was aufsteigt. Die Herausforderung besteht darin, sich auf etwas einzulassen ohne sich zu zwingen, es "richtig" zu machen. Denn dadurch, dass man sich der Herausforderung stellt, wird das Unterbewusstsein aufgefordert, aufsteigen zu lassen, was aufsteigen darf. 

Es könnte also darum gehen, sich selbst durch eine Landschaft gehend zu beschreiben - um bei unserem Beispiel zu bleiben - und dann eine Person auftauchen zu lassen. Wer ist es? Was will sie? Was sagt sie? 

 

Wenn das geschafft ist, gibt es Pause und frische Luft. Das System braucht Sauerstoff und einen Perspektivwechsel. Und Atmen hilft dabei, Ängste aus dem Körper zu lösen. 

 

Im dritten Teil - am besten tatsächlich dafür den Platz im Raum wechseln - schaut man sich an, was beim Schreiben entstanden ist und zieht so etwas wie eine "Essenz" aus dem Text heraus. Gemeint ist hierbei keine therapeutische Erklärung, keine Selbsterkenntnis, sondern die Schlüsselworte, die schönsten Bilder, die schmerzhaften Sätze, die Augenblicke größter Emotion. Daraus wird noch mal ein Mini-Textstück geschaffen, ein kleines Gedicht, ein Wortspiel, eine Liste, ein Muster, ein Rätsel oder einfach nur ein Zettel für die Hosentasche. Das ist quasi die eingedampfte Version dessen, was gerade entstanden ist. 

 

Der vierte (optionale) Schritt besteht darin, dass man sich überlegt, was man mit dieser "Essenz" in den nächsten Tagen anfangen will: Liest man den Zettel täglich einmal durch? Verbrennt man ihn im Kamin? Klebt man ihn in ein Notizbuch oder pinnt ihn an den Kühlschrank? 

 

Diesen Vier-Schritte-Prozess habe ich auch bei den 52 Schreib-Workouts in meinem Buch "Auf die Lücke, fertig, los!" eingesetzt - weil ich sie einfach super logisch finde! 

Was Poesie-Therapie nicht ist

Bevor du jetzt deinen inneren Dichter aktivierst in der Hoffnung, Poesie-Therapie könnte alle deine Sorgen wegreimen: Halt, Stopp! Es gibt ein paar Dinge, die wir klarstellen müssen:

 

Poesie-Therapie ist großartig, aber sie ersetzt keine Psychotherapie bei tiefgreifenden psychischen Problemen und erspart auch nicht den Gang zur Ärztin, wenn du das Gefühl hast, dass du Hilfe brauchst. 

 

Poesie-Therapeutinnen stellen keine Diagnosen. Und schon gar nicht anhand deiner Texte. Dein Gedicht über den Regen mag tiefgründig sein, aber es wird der Therapeutin nicht verraten, ob du unter einer Depression leidest oder nur einen schlechten Tag hattest. Diese Form der Therapie stellt eine effektive Unterstützung anderer therapeutischer Maßnahmen darf. 

 

Natürlich kannst du all diese Methoden nutzen (bitte, mach das sehr gerne), um dich selbst besser kennen zu lernen und dich mit Ängsten, Sorgen, merkwürdigen Situationen auseinanderzusetzen, Visionen für die Zukunft zu schaffen und die Vergangenheit einzusortieren. 

 

Wenn du schwere psychische Probleme hast oder körperlich erkrankt bist, gehst du zum / zur Dok. Basta. Die Behandlung, die du jetzt bekommst, kann in Rücksprache mit Fachleuten wie Psychotherapeutinnen oder Ärztinnen um Poesie-Therapie ergänzt werden. Leidet jemand unter den Folge eines schweren Traumas oder eine Paranoia, ist es beispielsweise wichtig, die Übungen entsprechend darauf sensibel auszurichten. 

 

Die Poesie-Therapie ist eine begleitende Methode, kein Ersatz für medizinische oder psychotherapeutische Behandlung. 

 

Kurz gesagt: Poesie-Therapie kann dir als Privat-Nutzerin die Werkzeuge geben, um deine Gedanken und Gefühle zu erforschen – aber die richtig schweren Brocken sollten immer in Zusammenarbeit mit Expertinnen bearbeitet werden. Kann sein, dass die dir raten eine begleitende Schreib-Therapie zu machen. 

Wo wird Poesie-Therapie eingesetzt?

Überall dort, wo Menschen Unterstützung erfahren, kann das Schreiben genutzt werden: in Krankenhäusern, Schulen, Selbsthilfegruppen, Therapeutischen Einrichtungen, in Reha-Kliniken, in Pflegeheimen und Gefängnissen. Überall dort kann Poesie-Therapie das Angebot erweitern und bereichern. 

 

Gerade die Arbeit mit Jugendlichen, bei denen das Bedürfnis nach Selbstausdruck und Sichtbarkeit stark ausgeprägt ist, kann mit Poesie-Therapie effektiv gestaltet werden. 

 

Ich nutze die Methoden und Erkenntnisse aus der Poesie-Therapie in all meinen Schreib-Gruppen, ohne dass die Teilnehmenden etwas davon mitbekämen. 

Warum funktioniert das?

Weil Worte Macht haben, wirkt. Poesie-Therapie, könnte man sagen. Klingt aber irgendwie rabiat. Sagen wir mal so: Durch das Schreiben ordnen wir unsere Gedanken, erkennen Muster und finden neue Perspektiven. Es ist, als würde man einen inneren Knoten lösen und plötzlich fließt alles leichter.

 

Schreiben ist denken mit Buchstaben - aber nicht nur das Denken, das wir mit unserem logischen Verstand leisten, auch das Denken, das Bilder erschafft, Gefühle erzeugt, von Assoziationen ausgelöst wird und solche erzeugt. Schreiben ist - jedenfalls mit dem Methoden des therapeutischen Schreibens - eine Beschäftigung mit uns selbst. Es geht um den Prozess und die Auswirkungen auf die Schreibende, nicht um den bestmöglichen Text.

 

Schreibend können wir nicht nur sehr viel über uns herausfinden und ins Bewusstsein holen, wir können es sogar "umschreiben". Beispielsweise wird in der Traumatherapie eine schmerzhafte Erfahrung schreibend durchlebt, durchleuchtet und schließlich abgeändert, bis das System seine Abwehrreaktion auf Erinnerungen oder Trigger langsam abschwächt, vielleicht sogar ganz loslässt. Ist ja klar, dass es dafür fachliche Begleitung braucht.

 

Ja, es ist die Macht der Worte als konkretisierte und bewusst gemachte Gedanken - die man sogar teilen kann, wenn man will. 

Wie ich mich habe ausbilden lassen

Ja, ich habe eine Ausbildung zur Schreibtherapeutin, und jeden Tag nutze ich das, was ich dort gelernt und geübt habe bei der Arbeit mit meinen Kund:innen. Aber ich biete keine Schreib-Therapie an. Meine Stärken liegen woanders. 

 

Meine Ausbildung habe ich 2020 absolviert im Deutschen Institut für Entspannungstechniken und Kommunikation. Die Ausbildung ging über mehrer Wochen, umfasste 192 Stunden Schreibtherapie und 32 Stunden Autogenes Training.

 

Diese Ausbildung erlaubt mir, Schreibtherapie "außerhalb der Heilkunde" anzubieten, zum Beispiel in einer Rehaklinik. Ich darf  keine Diagnosen stellen (kann ich auch nicht) oder Heilversprechen machen (uff) und ich muss bei ernsten Problemen die Zusammenarbeit mit Psychotherapeutinnen oder Psychaterinnen suchen oder auf einen solchen verweisen. 

 

Fazit

Poesie-Therapie ist eine Form des autobiografischen Schreibens, die man selbst oder zusammen mit einem Profi machen kann. Dabei geht es nicht um das textliche Ergebnis, sondern um den Veränderungsprozess des Schreibenden. Du kannst diese Form einsetzen zur Selbstklärung oder auch ganz gezielt zur Heilung von psychischen und physischen Erkrankungen - dafür braucht es aber unbedingt therapeutische Begleitung. 

 

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